Brauchen wir Heimat?

«Trittst im Morgenrot daher, seh‘ ich dich im Strahlenmeer», schalte ich den Wecker aus und zieh die Bettdecke über’n Kopf. Wohlwissend, dass du, oh Helvetia, in wenigen Minuten im Nebel verschwind’st.

Derselbe Nebel, der mich allmorgendlich davon abhält, aus dem Bett zu kriechen, umhüllt auch mein Verständnis von Heimat. Denn seit ich ein kleines Kind bin, wächst der Begriff mit mir mit. Mit sieben Jahren etwa war mein Quartier meine Heimat und das Ausland da, «wo die Ausländer wohnen» – im Aussenquartier. Heute sind die Grenzen schwammiger geworden. Schliesslich sind wir doch alle Weltenbürger, Eskapisten und interconnected wie das Internet. Da wird dann plötzlich die Welt zur Heimat und der Mars zum Ausflugsziel.

Aber fangen wir am Anfang an: Heimat, das bedeutet doch, zuhause zu sein. Es ist ein nicht immer näher definierter Ort, an den man zurückkommt, und zu dem man sich zugehörig fühlt. Zugehörig zu einer Familie, einer Gemeinde, einem Volk. Kurz: zu anderen Menschen. Heimat ist der Rahmen, in dem wir aufgewachsen und sozialisiert worden sind.

Jede Heimat kennt daher eigene Regeln. Welches Essen wir an Weihnachten kochen, wie weit der Zeitrahmen für «Pünktlich-Sein» geht, ob wir Gästen Tee anbieten oder doch eher gleich ein 5-Gänge-Menu. Vielleicht fühlen wir uns zuhause, wenn wir am Markt um ein Kilo Zimt feilschen, vielleicht aber auch, wenn wir uns bei Neuschnee über die Unpünktlichkeit der Bahn auslassen. In meiner Heimat ist es vielleicht normal, dass sich Mädchen online im Tanga zeigen, in deiner, dass du mit Frauen keinen Augenkontakt herstellen darfst, bis du sie geheiratet hast. Und schon haben wir Konfliktpotenzial.

Eine Heimat kommt nämlich selten allein.

Tatsächlich definiert jeder Mensch Heimat anders. Das macht den Begriff im kollektiven Bewusstsein zu einem abstrakten Konstrukt, das eher einem Gefühl entspricht. Das macht Heimat manipulierbar. Durch Medien, Menschen und Wunschvorstellungen. Und vor allem durch die Politik. Denn wen wähle ich, wenn nicht denjenigen, der mir eine intakte Heimat verspricht?

Romantisiert und völlig verklärt wird darum für die Schweiz ein Heimatbegriff propagiert, die einem geheiligten Land sehr nahe kommt: Sonnenschein, glückliche Kinder, intakte Familien, keine Kriminalität und eine Wirtschaftslage, in der es jeder schafft, sich selbst zu versorgen. Früher – wobei unklar bleibt, wann dieses Früher gewesen ist – war das so. «Wir» leben bereits im gelobten Land. Korrumpiert wird es nur durch «die anderen».

Politik sei Dank hat Heimat einen bitteren Nachgeschmack.

Heimat wird verwendet, um abzugrenzen. Gärtchendenken wie es im Buche steht. Dabei geht vergessen, dass Heimat kein Ausschlussverfahren braucht. Einem Menschen eine Heimat zu geben, ihn sich zuhause fühlen zu lassen – Heimat ist etwas, das wir mit anderen Teilen. Niemand wird etwas mit «Heimat» benennen, wenn er sich nicht Willkommen fühlt. Da kann die Arbeitslosenquote noch so tief und sein Gehalt noch so hoch sein.

Darum brauchen wir Heimat. Um uns, egal wo wir uns gerade befinden, in dieser Welt Willkommen zu fühlen. Und, damit wir dieses Gefühl mit anderen teilen können.

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