Mein erster Gedanke als ich vor dem Eingang stehe: Die sehen gar nicht aus wie Nerds. Dann denke ich mir, dass ich meine Brille nicht aufhabe und daher niemanden verurteilen sollte, der weiter weg als zwei Meter steht.
Ich bin an einer Lan-Party. 500 Menschen treffen sich in einer dunklen Halle, um zu zocken. Drei Tage und zwei Nächte lang. Als ich durch die Gänge zwischen den Tischreihen gehe, weht mir in regelmässigem Abstand der Geruch von Fast Food ins Gesicht. Zweimal muss ich über Beine steigen – der Rest des Körpers liegt unter, Portemonnaie und Handy auf den Tischen. Das ist hier ganz normal. Und noch etwas fällt mir auf. Die Köpfe drehen sich nach mir um. Trotzdem fühle ich mich nicht allzu geehrt, denn, sobald ich zurückschaue, wenden sie den Blick wieder dem Bildschirm zu. Ich hätte es mir gerade so gut auf die Stirn schreiben können. Ich. Game. Nicht.
Rund 2.5 Milliarden Menschen spielen online, die wenigsten davon professionell. Obwohl die Branche wächst, letztes Jahr war das höchste Preisgeld an einem eSport Turnier 10 Millionen, so richtig angekommen ist sportliches Gamen im Mainstream noch nicht. Zocken ist nicht etwas, womit man – ausserhalb seines Freundeskreis’ – angibt. Anders als Fussball, Kampfsport oder Golf verbinden wir nicht Leidenschaft, Ehrgeiz und Heldentum mit Menschen, die ihre Abende vor dem Computer verbringen. Noch wollen wir nicht dafür bezahlen, Menschen beim Gamen zu zuschauen.
Ich bleibe stehen. Da spielt einer tatsächlich mit Ärmeln, die aussehen wie eine Ritterarmatur. Sascha spielt Playerunknown’s Battlegrounds, sein Team wird mit rund hundert gegnerischen Spielern über einer Insel aus einem Flugzeug abgeworfen. Unten angekommen heisst es überleben. Die Rüstung trägt er als Challenge, wie er mir sagt. Ich versuche mir vorzustellen, dass jemand im Bürojob als Challenge Gewichte um seine Hände legt, um die Exceltabelle nicht so leicht auszufüllen. Als ob. Gamer sind da anders. Sie stellen sich Herausforderungen, von denen sie zwar wissen, dass sie schwierig zu erreichen, aber machbar sind. Und wenn sie verlieren? Dann versuchen sie es gleich nochmal.
Online Games funktionieren oft durch ein System, das dem Spieler ständig positives Feedback gibt. Mehr Leben, mehr Gold, mehr Rüstung, mehr Skills. Im Offline-Leben funktionieren wir eher wie ein pessimistisches Schachspiel. Jeder hat seine Rolle, seine Funktion, seine Aufgabe in der Gesellschaft. Ein Turm ist ein Turm. Ein Springer ist ein Springer. Nur selten gelingt es einem Bauern, zur Dame zu werden. Wären wir motivierter, wenn wir ständig belohnt würden?
Es ist kurz nach 21 Uhr und sehr friedlich, fast still in der Halle. Nur manchmal ruft jemand «Let’s Go» in die Dunkelheit. Lan-Partys sind, allem voran, get togethers. Man trifft seine Freunde, zockt, raucht, erzählt, trinkt Bier. Von klischeehafter Asozialität keine Spur. Freundschaft sei ein sehr wichtiger Aspekt, erzählt mir Amina*. Sie ist 23 und mit einer Freundin aus Köln hier. «Beim Online Gaming ist das Erste, das du von einer Person kennenlernst, ihre Stimme. Die Oberflächlichkeit fällt komplett weg.» Amina ist zwar mit Freunden hier, aber trotzdem eine Ausnahme, ein Einhorn, eine Frau an der Lan.
Komisch, denn 48 Prozent aller Frauen gamen. Das sind nur 2 Prozent weniger als Männer. Der einzige, und vielleicht essenzielle Unterschied, ist, dass sich fast doppelt so viele Männer als «Gamer» bezeichnen, wie Frauen. Dabei ist Zocken, wenn du früh genug damit beginnst, schon fast eine Ausbildung. Der durchschnittliche Gamer hat, wenn er in einem Land mit grosser Game- Kultur aufgewachsen ist, 10 000 Stunden gezockt, wenn er 21 Jahre alt ist. Das sind fast tausend Stunden mehr, als wir in die Volksschule gehen. Gamen ist Wissen.
Als ich zur Schule ging, waren Gamer noch Outsider – und heute komischerweise gute Freunde von mir. Sie trugen die Haare abstehend und nur selten gewaschen, hatten Mühe, empathisch zu sein und kamen im Winter mit Sandalen in den Unterricht. Aber wenn ich mich an der Lan- Party so umschaue, hat sich das Klientel verändert. Oder ein Klischee ist tot. Diese Gamer sind Menschen, die Primarlehrer oder Journalisten sind, die Kampfsport machen und keine Hochwasserhosen tragen.
Und genau diese «wie du und ich Menschen» haben einen grossen Vorteil in sich: unerschütterlicher Optimismus. 2008 hat das Institute For The Future ein Online-Spiel entwickelt, das Gaming Potenzial offline entfesseln soll. Im Game «Superstruct» hatte die Menschheit nur noch 23 Jahre zu Leben und es war die Aufgabe der über 8000 Spieler, die Zukunft neu zu erfinden. In den Bereichen Energie, Nahrung, Gesundheit und Soziales kamen über 500 kreative Ideen zur Weltrettung zusammen. Ich versuche mir vorzustellen, wie ich eine Exceltabelle mit Ideen zur Abwendung der Apokalypse erstelle. Als ob.
*Habe mir ihren Namen leider so hässlich aufgeschrieben, dass ich ihr für den Text einen neuen geben musste. Lesson learnt.
Quelle Frauen und Männer, die gamen, 2015
Quelle Anzahl Online Gamer, 2016
Quelle Gaming can make the world better
Quelle Stunden Volksschule
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