Brauchen wir Body Positivity?

Vor dem Spiegel stehen zu können – am besten in einer fies beleuchteten H&M- Kabine – sich tief in die Augenringe zu schauen und zu sagen «ich bin schön». So geht moderne Selbstliebe. Body Positivity macht es uns möglich: Laut ihr ist jeder Körper es wert, geliebt zu werden. Aber, Spieglein, Spieglein an der Wand, wieso sind die inneren Werte 2018 immer noch verkannt?

Nachdem wir Tangas über abgemagerten Hüftknochen und Nahrung in Pulverform abgeschworen haben, ist es jetzt so weit: 2018 und wir sind plötzlich alle schön. Ob fett, abgemagert, mit Cellulitis, verbleichten Arschgeweihen oder Haaren auf den Zehen. Weg mit all den Fitness- und Früchtli-Accounts auf Instagram und her mit Body Positivity Kanälen, die sagen, dass wir eine Hand in der Hose und die andere in der Chipstüte haben dürfen und trotzdem von der Gesellschaft gefeiert werden. Kurze Beine, Narben, Haare auf dem Rücken, Dellen – keine Makel mehr, sondern was uns schön macht. Body Positivity liebt das Aussehen aller Menschen. Auch das von Abgemagerten oder stark Übergewichtigen. Die sind auf Social Media natürlich nie krank – wer krank ist, ist die Gesellschaft. Diese Menschen wurden von der Natur so geschaffen. Aber wenn die Natur Herzinfarkte, Osteoporose oder Diabetes schafft, klatschen wir ja auch nicht in die Hände und klicken auf Like. Nichts spricht dagegen, dass sich übergewichtige oder abgemagerte Menschen schön finden. Aber sie sind nicht im Recht, kranke Körperbilder zu normalisieren.

Body Positivity setzt auf die körperliche Natur, lebt allerdings vor allem an einem Ort, an dem jeder so aussehen kann, wie er will. Im Internet. Dort, wo beinflussbare Teenager, verunsicherte Mittzwanziger und selbstkritische Erwachsene auf der Suche nach Bestätigung sind. Das Spektrum des Körpergefühls ist aber viel grösser und komplexer als 280 Zeichen und ändert sich mit jedem Tag, jeder öffentlichen Garderobe und jeder Phase des Zyklus. Und während wir in der realen Welt noch so tun, als ob wir unsere Cellulitis nicht störend finden, posten Influencer auf Instagram stolz Fotos von ihrem Bauchfett, Schwangerschaftsstreifen, Achselhaaren, Akne – und verdienen so ihr Geld. Body Positivity hat somit ein Manko mit allen anderen Schönheitsbewegungen gemein: den Body. Den Körper als Marke, als Verkaufsargument, als Grund, geliebt zu werden. Wir haben in dieser neu anbrechenden Ära die Mittel, um Schönheit neu zu definieren. Das sagen uns zumindest die Propheten unserer Zeit, die Hashtags. Denn Schönheit liegt jetzt nicht mehr im Auge des einzelnen Betrachters, sondern anscheinend überall rum.

Genauso liegt der Witz, die Intelligenz, die Herzlichkeit, der Wissensdurst, das Querdenken, der Drang nach vorne überall rum, sind anscheinend aber nicht wichtig genug, um ihren eigenen Hashtag zu bekommen. Klar, innere Werte sind auf Social Media schwer ersichtlich und der erste Eindruck flüchtiger als in der Realität. Aber es geht nicht immer um Fortpflanzung. Auch wenn Body Positivity davon ausgeht, dass alle Körper schön sind, wir finden niemals alle attraktiv. Deshalb ist nicht ein Verständnis für alle Körperformen gefragt, sondern gesunder Menschenverstand, der Meinung in einem Rahmen äussert, der die betroffene Person nicht verletzt.

Fältchen um die Augen, Hüftgold, Haare auf dem Rücken, Cellulitis, Brüste, die hängen, weil sie Kinder genährt haben, Arme, die nach dem Winken fröhlich weiter wabbeln – das sind Körper, wie sie die Natur schafft. Menschen, die ihr Haus nur noch im Elektrorollstuhl verlassen, Teenager, die sich in den Tod hungern, Zuckerkrankheiten, die Amputationen fordern – das sind Körper, wie sie der Mensch schafft. Und oft ist nicht der einzelne Mensch alleine schuld, sondern sein Umfeld, seine Erziehung, wie er von seinen Mitmenschen behandelt wird und welche Werte ihm nahegelegt werden. Wer bei seinem letzten Atemzug an seine dicken Oberschenkel denkt, der hat im Leben vermutlich mehr als seinen letzten Atemzug verwirkt.

Also nein, wir brauchen keine Body Positivity. Wir brauchen Brain Positivity. Wenn wir in den Spiegel schauen, sehen wir nicht einfach eine Hülle, die jeder tragen könnte. Sie ist geschneidert auf einen bestimmten Menschen. Falten, Narben, Dehnungsstreifen, krumme Nasen – das sind alles nur Zeichen dafür, was eigentlich im Körper steckt. Der Schmerz, die Freude, das Potential, die Sehnsüchte, der Charakter einer Person. Und um das zu sehen, müssen wir den Menschen vor uns kennenlernen wollen. Müssen mit ihm lachen, schlafen, streiten, uns betrinken, tanzen, Strassenschilder klauen, dazu lernen, Ängste überwinden und ihn an unsere Substanz lassen. Und diese Art von Kontakt ist wahre, starke, seltene und unendliche Schönheit. Mit der es kein erster Eindruck, kein Hashtag und kein Spiegel aufnehmen kann.

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