Mikrokosmos Geburt: Was schön sein will, muss durchlitten werden

Es ist mitten in der Nacht, die Lampe taucht das Krankenzimmer in orangefarbenes Licht. Darin: Kyla und Karsten. Ich begleite die beiden bei der Geburt ihres dritten Kinds. Die Wehen haben vor drei Stunden eingesetzt. Kyla geht im Zimmer auf und ab, hat Kopfhörer in den Ohren, atmet tief ein und aus, sie hört mich nicht reinkommen. Ihr Mann Karsten sitzt auf einem Gymnastikball. Ob er nervös sei, frage ich. Nö, meint er trocken. Ihm tue ja nichts weh. Er lacht sanft. Ich jedenfalls bin nervös, schliesslich ist es meine erste Geburt.

Es ist Kylas drittes Baby, ihre Zwillinge kamen vor viereinhalb Jahren per Kaiserschnitt zur Welt. Dieses Mal will sie eine natürliche Geburt. Keine schmerzstillenden Medikamente, keine wehenfördenden Mittel, keine Operation – so der Plan. Und bis jetzt scheint er aufzugehen. Kyla hat alle Ärzte aus dem Zimmer geschickt, sie möchte sich auf ihren Instinkt verlassen. Dazu hat sie guten Grund: Wenn die Frau beim Gebären entspannt ist, schüttet sie das Liebeshormon Oxytocin aus. Je mehr desto besser. Es verursacht Muskelkontraktionen und bringt die Wehen voran. Oxytocin wird zum Beispiel auch beim Orgasmus oder beim Kuscheln ausgeschüttet. Es ist das Bindungshormon zwischen Menschen. Und wirkt, solange die Frau keine Angst hat.

Bis jetzt verläuft diese Geburt nicht, wie ich es mir vorgestellt habe. Wie ich es aus den Filmen und Serien kenne. Es schreit keiner rum, niemand ist panisch und keiner warnt «Bleib bloss beim Kopf!». Am Nachmittag sind Kylas Wehen wieder schwächer. Ob das heisse, dass das Baby schlafe, fragt sie die Hebamme mit einer Kopfbewegung Richtung Monitor, der die Herztöne des Babys zeigt. Ja, sagt die Hebamme lächelnd. Wie es jetzt nur schlafen könne, fragt Kyla ihren Bauch. Ihre letzten Worte gehen in einem Stöhnen unter, die Wehen sind zurück. Sie hält sich am Bettgestell fest, Karsten streicht ihr sanft über den Rücken.

Früher brachten Frauen ihre Kinder zu Hause zur Welt. Eine Geburt zu sehen war normal und nicht etwas Fremdes, Beunruhigendes, Medizinisches, wie eine Operation. Dann machte die Medizin enorme Fortschritte. Sie verlegt die Geburt ins Krankenhaus und machte sie zu einem sicheren Prozess. Und zu einem medizinischen Ablauf, in den mit Medikamenten, Narkosen und Operationen eingegriffen werden kann. Obwohl die Weltgesundheitsorganisation die optimale Kaiserschnittrate bei 10 Prozent sieht, enden in der Schweiz ein Drittel der Schwangerschaften in einer Operation. Kann ich verstehen: stundenlang Schmerzen, erbrechen und Ausdehnung der unteren Körperregion – nicht gerade meine Hobbys.

Unterdessen ist es wieder Abend. Kyla lässt sich zwar untersuchen, will aber nicht wissen, wie weit die Geburt ist. Der Muttermund muss zehn Zentimeter geöffnet sein, damit das Baby zur Welt kommen kann. Kylas Muttermund ist jetzt bei drei Zentimetern. Nach zwanzig Stunden Wehen. Das sagt mir eine der Hebammen. Sie hat den Glauben an eine natürliche Geburt bereits aufgegeben. Es wäre Zeit für einen Kaiserschnitt, meint sie. Ich stehe vor Kylas Zimmertür und höre, wie sie schreit. Zögerlich gehe ich rein. Und wie sie schreit. Laut, hoch, verzweifelt. Ich kann sie nicht direkt anschauen. Wenn sie eine Freundin von mir wäre, jetzt würde ich vermutlich anfangen zu weinen. Ich komme mir hilflos vor. Kyla liegt erschöpft auf dem Bett, ein nasses Tuch über ihren Augen. Es fühle sich an, als ob es sie in zwei Hälften zerreisse, murmelt sie. Karsten sitzt neben ihr und sieht, zum ersten Mal, besorgt aus. Die Ärzte haben Angst, dass das Narbengewebe des Kaiserschnitts reissen könnte, raten zu einem Kaiserschnitt. Kyla ist entmutigt.

Wenn die Frau bei der Geburt verunsichert oder verängstigt ist, schüttet sie Adrenalin aus, der Oxytocinlevel sinkt. Und die Geburt steht still. Wie jeder andere Muskel, ist die Gebärmutter bei Gefahr angespannt. Die Verspannung löst intensivere Schmerzen aus und das Angst. Der «Fear-Tense-Pain Cycle» kann zum Beispiel durch schmerzhafte Untersuchungen, hektische Atmosphäre oder abwertende Kommentare ausgelöst werden. Hier bleibt’s weiterhin ruhig: Kyla und Karsten entscheiden sich gegen den Kaiserschnitt. Ich bin erschöpft, weiss nicht, was besser wäre – durchhalten oder operieren. Ich schlafe schlecht und wenig in dieser zweiten Nacht im Krankenhaus.

Am nächsten Morgen ist es so weit. Das Baby kommt. Ganz natürlich, nach dreiunddreissig Stunden Wehen. Wieder merkt Kyla nichts, als ich ins Zimmer komme. Oder sie kümmert sich nicht darum. Sie hat die Augen geschlossen, sieht aus als wäre sie an einem anderen Ort und doch komplett bei sich selbst. Falls mir übel werde, solle ich mich auf den Boden legen, sagt die Hebamme zu mir. Zwischen den Presswehen gibt ihr Karsten Wasser, streicht ihr übers Haar. Sie schreit nicht mehr, sie stöhnt. Laut und tief, als wisse sie genau, was sie tue. Mit einem letzten Aufbäumen ihres Bauchs sackt er in sich zusammen. Es sei ein Mädchen, ruft Karsten. Sobald sie auf Kylas Bauch liegt, schreit sie. Sie schreit laut und stark und als könne sie es mit dem ganzen Leben auf einmal aufnehmen.

Ich weiss nicht, woran es liegt. Den schlaflosen Stunden, dem hellen Neonlicht, der Ungewissheit oder dem Neugeborenen vor mir – ich fühle mich überwältigt, entwaffnet und zum ersten Mal in meinem Leben spüre ich Demut. Dieses kleine Geschöpf vor mir ist das krasseste, das ich je gesehen habe. Zum ersten Mal bringe ich Schmerz nicht mit lästiger Körperfunktion, sondern mit Stärke, Mut, Selbstvertrauen und mit einem grossartigen Versprechen in Verbindung. Wenn eine Geburt nicht schmerzen soll, was dann?

 

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