Eines vorne weg: Um effizient zu arbeiten, lange zu leben und möglichst nicht zu viel oder zu wenig zu konsumieren, brauchen wir keine Menschlichkeit. Vordefinierbare Abläufe lassen sich automatisieren, unser Nahrungsbedarf genau definieren und das gerechte Verteilen von Reichtum, Nahrung und Zugang zu medizinischer Versorgung wird von einem Algorithmus ganz sicher besser gelöst, als von uns Menschen. Sollten wir also besser unsere Menschlichkeit ablegen und mehr wie Roboter werden?
Stellen wir uns vor, es sei das Jahr 2320 n. Chr.. Wir haben den aktuellen Trend zur Perfektion getrieben: All unsere Leben sind durch Algorithmen durchoptimiert. Kalorienbedarf, Schlafenszeiten, Beschäftigung, gesellschaftliche Veranstaltungen und Ich-Zeit: Für alles gibt es eine Zahl, eine Berechnung, einen Algorithmus.
Und was im Kleinen gilt, gilt in der durchberechneten Zukunft auch im Grossen: Als eine Art Unterbewusstsein erzeugt ein globales Netzwerk – ein Nachgänger des World Wide Web – einen Impuls, bevor bei uns Menschen ein Bedürfnis entsteht. Im Jahr 2320 haben vielleicht ungewöhnlich viele Frauen zwischen dreissig und vierzig Jahren jede Woche Lust auf rohe Karotten. Doch das ist Schnee von gestern. Der Algorithmus weiss, dass dieselben Damen in einem Jahr Lust auf getrocknete Papaya haben werden. Also hat er schon die entsprechenden Roboter mit der Produktion beauftragt.
Welthunger: ist gegessen. Drohnen verteilen die Nahrungsmittel in Schallgeschwindigkeit in der ganzen Welt. Krankheiten? Brechen gar nicht erst aus, weil sie sofort entdeckt und bekämpft werden. Wirtschaftskrisen? Was ist Wirtschaft? Was eine Krise? Wenn jeder genug zu essen hat und nicht mehr arbeiten muss, gibt es dazu keinen Bedarf mehr.
Die Menschheit ist arbeitslos. Verschwindet dadurch auch die Menschlichkeit?
Vor 2320 werden wir Menschen versuchen mit den Maschinen mitzuhalten. Durch Exoskelette, Neuroimplantate oder andere technische Gadgets werden Menschen zu Maschinen beziehungsweise Maschinen zu Menschen. Transhumanisten sind schon heute daran mindestens den philosophischen Grundstein dafür zu legen, dass Menschen ihre Schwächen – begrenztes Erinnerungsvermögen, sterbliche Hülle – ablegen können.
Doch irgendwann wird ihnen klar werden, dass aus Blut und Wasser bestehende Lebewesen auch mit leistungssteigernden Drogen und technischen Erweiterungen einen zu hohen Verschleiss haben. Dass ewige Leben bleibt bis anno 3000 eine Wunschvorstellung. Maschinen werden alle Arbeit übernehmen. Doch die Umstellung wird sich langsamer durchsetzen als von Experten erwartet: Denn Menschenleben sind immer noch billiger, als Maschinen und Roboter auf dem Stand der Zeit.
Unzählige Dystopien beschreiben, wie Maschinen die Welt übernehmen. Die Menschheit entweder ganz auslöschen oder als Sklaven halten. Aber eigentlich sind wir schon heute Teil eines Systems, das nicht in erster Linie auf unser Wohlergehen, sondern auf Profit aus ist.
Heute geht es uns – hier in der Schweiz – so gut wie noch nie. Krankenversicherung, gute Schulen, Sozialstaat. Doch der Reichtum hat uns auch berechnend gemacht. Wir haben Angst, das, was wir uns erarbeitet haben, zu verlieren und versuchen uns vor Masseneinwanderungen und zu vielen Sozialhilfeempfängern zu schützen. Ist das menschlich? Ist das Menschlichkeit?
Heute haben wir so vielfältige aber auch absurde Schönheitsideale wie noch nie. Bilder werden bis zur Unkenntlichkeit verändert. Mädchen und Jungen versuchen einen Körper zu erreichen, der so nur digital existiert. Ist das menschlich? Ist das Menschlichkeit?
Menschlich scheint, dass wir uns anpassen. Dass wir gar nicht merken, wie sich die Welt um uns und wir uns mit ihr verändern. So wie wir uns jeden Tag ein bisschen mehr an unwirkliche Bilder gewöhnen, uns bei der ersten Ungerechtigkeit noch echauffieren, die Hundertste aber mit einem Schulterzucken abtun. Genau so werden wir auch unsere Menschlichkeit an Maschinen verlieren. Doch am Ende ist das eben auch nur: menschlich.
Vielleicht aber sind Maschinen die besseren Menschen. Denn sie berechnen rational, was wir nur nach Gefühl sagen können: Kein Mensch würde je von sich behaupten er habe 100 Prozent das, was er zum Leben brauche. Eine Maschine ist nach einer gewissen Zeit aber immer 100 Prozent geladen. In einer idealen Welt gäbe es keine Menschlichkeit mehr. Aber es gäbe wohl auch bald keine Menschen mehr. Wir brauchen Menschlichkeit also. Denn es ist die Menschlichkeit, die uns am Leben hält. Aber sie ist es auch, die uns ins Verderben führen wird.