Mikrokosmos Gericht: Auge um Auge, Zahn um Zahn, Blumentopf um Blumentopf

Wir schreiben Montag, den 26. Februar. Wetter, Autos, Gerichtsgebäude, die Kläger und Angeklagten: Alles ist grau und kalt. Die zwei Männer, die heute vor Gericht sind, sind Nachbarn. Fast ein bisschen mehr als das. Denn sie wohnen in einem Zweifamilienhaus. Dazu kommt, dass sie nicht nur ihr Haus teilen, sondern beide auch einen Dickschädel der besonderen Sorte ihr eigen nenne. Der hat sie bis vors Bezirksgericht gebracht. Denn die beiden wohnen so nah zusammen, das es nicht mehr geht. Zumindest wenn es um den Kläger geht. Der sieht nämlich seine Lebensführung durch vier Blumentöpfe bedroht.

Die Vorstellung – ähem, Entschuldigung – die Verhandlung beginnt um 14 Uhr.

«Sehr geehrte Frau Gerichtspräsidentin, sehr geehrter Herr Kunz, sehr geehrte Damen und Herren», beginnt der Anwalt des Klägers sein Plädoyer. Der Mann mit der kleinen roten Brille und dunklem Anzug hatte sich eigens dafür ein kleines Rednerpult aufgestellt. Durch einiges Ziehen und Biegen wurde aus einer kleinen Holzplatte ein etwa 40 cm hohes Pult. Darauf abgestützt hält er nun stehend seine Rede.

Sein Klient, Herr Hinz, hat mit dem Einzug im Zweifamilienhaus vor 10 Jahren auch das Wegrecht am Eingang seines Nachbarn vorbei zu seiner Türe erhalten. Der Weg, 95 cm in der Breite, wird aber nun durch seinen Nachbarn mit Blumentöpfen verschmälert. Das beeinträchtige die Lebensführung seines Klienten nachhaltig. «Der Weg kann weder mit Kinderwagen, Rollstühlen, Bagagen, Grillwagen, Möbel, Hockeytaschen oder Gartengeräten begangen werden», zählt er auf. Sohn Alex gehe dreimal in der Woche ins Hockeytraining und komme nur mit grosser Mühe an den Töpfen vorbei. Da auf beiden Seiten des Weges Töpfe stehen, sei das Manövrieren mit Kinderwagen, Rollstühlen, Bagagen, Grillwagen, Möbel, Hockeytaschen oder Gartengeräten mühsam bis unmöglich. Dazu kommt: Ein Freund des Sohnes, der Goalie des Hockeyclubs, habe eine noch grössere Tasche, und müsse durch die Garage das Haus betreten. Ausserdem verzichte die Ehefrau, welche als Behindertenbetreuerin arbeitet, auf Besuch von ihren Klienten, da ihr Haus für Menschen mit einer Beeinträchtigung zu schwierig zu erreichen sei.

Plot Twist: Bevor der Weg begangen werden kann, muss jeder Fussgänger eine Treppe erklimmen.

Doch die Einschränkung des Wegrechts und damit die Widerhandlung gegen den Dienstbarkeitsvertrag ist noch nicht alles, führt der Anwalt weiter aus. «Die Blumentöpfe sind nur aufgestellt worden, um Herrn Hinz zu schikanieren. Bis anhin haben die Angeklagten keinerlei Interesse an Gartenarbeit in jedweder Hinsicht gezeigt. Das ist gut erkennbar, an der Böschung hinter dem Haus und dem Verwenden von Plastik(!)blumen auf der Terrasse.»

Der Anwalt setzt sich.«Abschliessend danke ich Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.» Die Gegenseite darf nun auf das Gesagte reagieren. Hier bleibt der etwas jüngere Anwalt sitzen. Er scheint sich beherrschen zu müssen, betont jedes Wort einzeln und geht die Ausführungen des Klägers durch. «Ich.halte.an.den.Ausführungen.in.der.Klageantwort.fest», betont er immer wieder. Das Wegrecht sei nicht eingeschränkt. Ausserdem sei eine Skizze in den Unterlagen falsch: Es fehlt der Pfosten der Dachschräge, der ebenfalls auf Höhe der Blumentöpfe stehe. Zudem habe der Kläger selbst auch einen Blumentopf vor seinem Eingang. «Man sollte zuerst vor der eigenen Haustüre schauen, bevor man andere anklagt.» Und: Das Wegrecht sei auf die Wegplatten zu beziehen. Die Blumentöpfe seines Klienten Herr Kunz würden sich daher ausserhalb des Weges befinden. «Die Begehung und der Zugang des Grundstücks des Klägers ist somit nicht beschränkt.» Zudem sei zu bestreiten, dass die Blumentöpfe als Schikane aufgestellt wurden. «Diese Klage  – hingegen – ist schikanös.»

Soweit die Anwälte. Nun beginnt die Befragung der Anwesenden. Der Kläger hat das Wort. Er trägt einen Haarschnitt, der von hinten wie eine bayrische Semmel aussieht und ein graublaues Karo Hemd. Dazu betont er Kratzlaute. Jedes ch wird zu CHH und jedes K zu CKK. In einem Anflug von – sagen wir – Humor, erklärt er seine Sicht der Dinge: Sein Sohn und Besuch müsse mit Taschen und Koffern durch die Garage das Haus betreten.

«NatürliCH CKönnte iCH das Quartier umgehen oder eine Stützmauer erklimmen. ICH CKönnte auch im Handstand zu meiner Türe gehen. DoCH das CKann niCHt Sinn der SaCHe sein.»

Natürlich trage man einen Rollstuhl oder Kinderwagen auch einmal die Treppe hoch. Aber irgendwann seien die Kräfte am Ende und dann sei man froh, wenn man ohne Manöver zu seinem Eingang komme. «Es muss ja niCCHt eine schnurgerade Linie sein. ICHH CKann auch Slalom fahren. Aber zwei der Blumentöpfe müssen weg.»

Langsam wird klar: Es geht hier nicht nur um Blumentöpfe. Das Verhältnis der Nachbarn ist schon seit Jahren angespannt. Angefangen hatte es mit einer Sichtschutzwand, die Herr Kunz montieren liess. Herr Hinz wehrte sich dagegen. Sie sei zu hoch. Von da an wurde das Verhältnis nur noch schlechter. Ständig wurden Beschwerdebriefe geschrieben, geläutet und reklamiert. Das gipfelte darin, dass letzten Herbst Harassen Hinz den Weg zu seinem Haus versperrten.  Dann kam der Friedensrichter. Und die Harassen kamen wieder weg. Doch jetzt stehen eben Blumentöpfe immerhin nicht im aber am Weg.

Das Wort liegt nun beim Angeklagten Herr Kunz. Er sagt aus, dass das Verhältnis zwischen den Nachbarn nicht von Anfang an so schlecht gewesen sei. Man habe sogar einmal, frisch nach dem Einzug von Familie Hinz vor drei Jahren, zusammen gegessen. Doch dann kam die Sichtschutzwand. Seither mische sich sein Nachbar in sein Leben ein. «Einmal hat er sturmgeläutet und mich gefragt, ob ich meinen Job verloren habe. Das geht ihn doch nichts an.» Kunz‘ Stimme ist rau und rutscht manchmal in die Höhe. Er wirkt nicht besonders selbstbewusst dafür aber genervt. Kunz lässt die Schultern hängen. Er hat kleine Augen und eine Nase, die aussieht, als hätte sie ihm jemand zu fest ins Gesicht gedrückt. Auch er trägt ein Karo Hemd kaschiert es jedoch mit einem grauen Pullover.

«Gibt es einen sachlichen Grund, dass die Blumentöpfe dort stehen müssen?», schaltet sich nun die Gerichtspräsidentin ein. Kunz gerät ins Schleudern. Sagt etwas von Privatsphäre und Schutz seines Einganges. Die Gerichtspräsidentin wiederholt ihre Frage:

 «Herr Kunz, gibt es einen sachlichen Grund, dass die Blumentöpfe dort stehen müssen?» «Also einen sachlichen… Nein, das muss ich sagen.»

Er richtet sich an seine Ehefrau, die in den Zuschauerrängen sitzt. «Was denkst du?» «Herr Kunz», ermahnt die Präsidentin, «die Frage war an sie gerichtet.» «Nein, also einen sachlichen Grund… Da fällt mir keiner ein.»

Der offizielle Teil der Verhandlung ist vorbei. «Nun eröffnen wir die Vergleichsverhandlungen.» Der Anwalt des Klägers erhebt sich. «Wir wollen keinen Vergleich», sagt er wegwerfend. «Wir möchten einen Entscheid von Ihnen.» Er weist auf die Gerichtspräsidentin. Der Anwalt der Gegenseite widersteht der Versuchung, aufzustehen. «Wir», erwidert er, «sind sehr vergleichsbereit.» Der Anwalt des Klägers sitzt mittlerweile wieder, überschlägt die Beine und deutet mit dem Bügel seiner roten Brille auf die Richterin. «Neinnein. Uns würde sehr interessieren, wie Sie in diesem Fall entscheiden.» «Ein Vergleich», ermahnt die Gerichtspräsidentin, «ist meist für alle Beteiligten besser. Und Sie sind ja nicht verpflichtet ihn anzunehmen.»

Es folgen dann doch noch Vergleichsverhandlungen. Unter Ausschluss der Öffentlichkeit. Fast eineinhalb Stunden bleiben die Türen des Gerichtssaals verschlossen. In dieser Zeit klagt mir Kunz‘ Ehefrau mir ihr Leid.

«Kann ich Ihnen myne Geschickte erzählen?», fragt sie mit einem breiten amerikanischen Akzent. Aufgebracht kramt sie Akten hervor, Briefe, Bilder, Erinnerungen. Sie ist wütend. Und enttäuscht. «So etwas gäbe es in America nicht.» Zusammen mit ihrem Mann hat sie ihren Teil des Hauses gekauft. «So schnell gehen wir hier nickt weg.» Und ihr Nachbar sei so ein schlechter Mensch, dass… «Wäre es nicht besser, wenn sie diese Sache nicht vor Gericht lösen müssten?», versuche ich abzulenken. Sie pausiert. «Ja, ist schade. Aber wir kämpfen für unser Reckt. Es ist nicht zu ende. Das wird vielleicht teuer. Aber das ist unser Haus. Wir möckten hier in Ruhe leben.» Ihr Ehemann und sein Anwalt treten aus dem Gerichtsaal heraus, um sich zu beraten. Sie gesellt sich zu ihnen. Während ihr Mann ruhig mit seinem Anwalt diskutiert sind immer wieder Bruchstücke von ihren Sätzen zu hören.

«Nein, nein, das ist nicht OK… So ein Mann… das habe ich noch nie erlebt… He’s the devil, I’m telling you…Das ist nicht over.»

Nach 3.5 Stunden Verhandlung einigen sich die beiden Parteien schliesslich auf einen Vergleich: Der Kläger übernimmt 20 Prozent der Verhandlungskosten, der Angeklagte räumt die Blumentöpfe weg und übernimmt die Verhandlungskosten. Dazu entfernt er auch die am Gehweg installierten Kameras, die zwar nicht Teil der Verhandlung waren, aber dennoch im Vergleich berücksichtigt werden.

«Der unterschriebene Vergleich wird zum Entscheid erhoben», schliesst die Gerichtspräsidentin.

Hinz und Ehefrau sowie Anwalt und Kunz sowie Anwalt stampfen aus dem Gerichtssaal, würdigen sich gegenseitig kaum eines Blickes. Eine physische Hürde wird nun abgebaut. Eine psychische wurde gerade verstärkt.

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