Nach einer halben Sekunde setzt mein Würgreflex ein, meine Augen brennen. Auch ohne aktives Atmen unverkennbar: der Geruch nach Windeln, nach öffentlichen Pissoirs, nach Verwesung, nach Blut und Ammoniak. Willkommen in der Kläranlage. Sie ist die Endstation unserer Ausscheidungen, der Endboss sozusagen.
Level 1: der Rechen. Er fischt alles aus unserem Abwasser, das grösser als ein paar Millimeter ist. Langsam transportiert er Tampons, Binden, WC-Papier, Abschminktücher und Plastik nach oben, wo die Reste zusammengepresst werden. In der roten Tonne vor mir liegt das Abbild unserer Klokultur. Das heisst, falls der Abfall überhaupt bis zur Kläranlage schwimmt, ohne vorher ein Pumpwerk zu verstopfen. Vor allem feuchtes Toilettenpapier hat das Talent, sich in den Leitungen anzusammeln. Nach dem Rechen folgt Level 2: Das Abwasser kommt in die Klärbecken. Hier wird das Wasser von Sand, Fett, Öl und Schlamm (Fachjargon für Fäkalien) befreit, bevor es wieder auf die Umwelt losgelassen wird. Um die Becken riecht es sumpfig. Eine Mischung zwischen Überschwemmung und Nachtclub um vier Uhr morgens.
Nach den Klärbecken wird der Schlamm in die Faultürme gepumpt. Zwei grosse, runde Kugeln, wo er erhitzt wird. Level 3 funktioniert also ähnlich wie die Dixi-Klos an einem Festival. Einziger Unterschied: Was hier austrocknet, wird in die Zementindustrie gebracht. Was vergast, kann als Biogas ins Erdgasnetz gespeist werden. Die Chancen, dass dein Haus aus Fäkalien besteht und mit Urin geheizt wird, stehen also nicht schlecht. So ist der Mensch: erfinderisch, wenn sich damit Geld verdienen lässt. Aber es ist nicht alles Geld, was stinkt. Die Überreste im Schlamm bleiben in der Schneckenpresse hängen. Geöffnet sieht sie aus wie ein vergrösserter Duschabfluss. An ihm hängt eine dunkle, fadenartige Masse. Hier kleben die Haare von zehntausenden Menschen zusammen. Ich atme vorsichtig ein. Es riecht nach Algen.
Wir können noch so viele Essensreste, Haustiere und Katerausscheidungen das Klo runterspülen. Die Kläranlage entfernt gut 90 Prozent aller Stoffe, die nicht ins Wasser gehören. Was aber erst fünf von 700 Kläranlagen in der Schweiz können: Pestizide, Hormone und Medikamente aus dem Wasser filtern. Diese Mikroverunreinigungen bleiben im Wasser. Und stellen dort Dinge mit der Natur an, wie sie in den darwinschsten Träumen nicht vorkommen. Wenn wir mit der Antibabypille unseren Eisprung unterdrücken, beglücken wir damit nicht nur unser direktes Umfeld mit Stimmungsschwankungen, Lustlosigkeit und grösseren Brüsten – nein, das Östrogen in der Pille führt auch dazu, dass männliche Fische in den Schweizer Gewässern verweiblichen. Das geht so weit, dass sie beginnen, Eier zu legen. Na, immerhin einer.
Mit unseren Fäkalien hingegen hatte die Umwelt bis vor kurzem keine Probleme. Über tausende von Jahren hat sie es geschafft, das Wasser mit ihren natürlichen Filtern zu reinigen. Wir Menschen mussten die Kläranlage erst ins Leben rufen, als wir der Natur den Rücken kehrten und Städte bauten. Acht Millionen Menschen in der Schweiz machen es dem Wasser nicht gerade leicht, sauber zu bleiben. Seit wir gelernt haben, die Kontrolle über unseren Körper zu erweitern, indem wir Krankheiten heilen, unsere Nahrung düngen und uns mit synthetischen Drogen aufputschen, landen diese Spurenstoffe auch in unseren Flüssen, Seen und nicht zuletzt in unserem Trinkwasser.
Was, wenn nicht die Kläranlage der Endboss des Wassers ist, sondern wir? Die Natur findet, anders als wir Menschen, Wege, mit unserem Scheiss fertig zu werden. Sie bildet neue Bakterien, neue Pilze und verändert Pflanzen, um sich zu reinigen. In den letzten paar tausend Jahren hat sich bei uns evolutionstechnisch erschreckend wenig getan. Nur unsere Gehirne wurden grösser und ermöglichen uns, Medikamente, Hormone und Pestizide zu entwickeln. Wir leben immer länger und immer gesünder. So ist der Mensch. Unerschrocken, wenn es darum geht, sich als Krone der Schöpfung zu platzieren. Aber diesen Platz zahlen wir mit der Qualität unserer wichtigsten Lebensressource überhaupt: Wasser.