Hinsetzen, wir fahren ab. Es ist vier Uhr und der Zug fährt gerade aus dem Luzerner Bahnhof hinaus. Das Wetter: freundlich wenn auch wechselhaft. Die Passagiere sind es ebenso. Kaum jemand bleibt länger als ein paar Stationen lang sitzen. Wie immer vergeht die Zeit im Zug wie im Flug. Hier im Zug bin ich unterwegs, ohne mich (einmal im Zug drin) um das Fortkommen kümmern zu müssen. Dazu kommt, dass jedes Abteil das ist, wozu ich es mache: Sei es meine private Gepäckablage, eine Pick-Nick-Gelegenheit oder die Bühne für eine kleine Gesangseinlage – wohlverstanden, weil ich mal wieder vergessen habe, dass ich Kopfhörer trage und doch nicht so leise vor mich hin summe, wie ich denke. Heute aber wird das Abteil zum Beichtstuhl. Doch das hat nichts mit mir zu tun.
Durch meine lange und unfreiwillige Karriere als Pendlerin (10 Jahre zwischen Luzern – Beinwil, Beinwil – Aarau und bald Aarau – Zürich) durfte ich vielen spannende Menschen begegnen. Ein verständnisvolles Lächeln oder Stirnrunzeln reichte oft, um demjenigen, der mir gerade gegenüber sass, den Auftakt zu einem Monolog zu geben. Ich höre noch immer gern zu. Und wünsche mir manchmal dasselbe Talent für Familienessen und Geschäftsanlässe. Doch tatsächlich sind Schweizer nirgends so gesprächig, wie in einem Zugabteil.
«Haben Sie Geschwister?», fragt mich eine Nonne, die drei Stationen nach Luzern eingestiegen ist.«… Ja, ich habe eine Schwester, 3 Jahre älter», fährt sie fort, «ich habe mich heute um sie gekümmert. … Sie ist krank.» Brigitte – so hat sich die Nonne vorgestellt – wirkt nicht traurig. Eher nachdenklich und ruhig. Ihr weiches Gesicht wird vom Schleier noch abgerundet. «Ich brauche nichts», sagt sie, «nur Gott.» Sie erzählt, ganz ohne dass ich nachfragen muss. «Ich habe schon einiges durchlebt. Wir Menschen haben keine Macht über diese Welt. Und jetzt wo sie den Tumor», sie formt mit Daumen und Zeigefinger einen Kreis, « – so gross – bei meiner Schwester gefunden haben bestätigt mich das nur in meiner Entscheidung, mein Leben im Kloster zu verbringen.» Pause. «Ich bin froh, dass ich dort eine Heimat gefunden habe.»
Ich nicke und erinnere mich an einen Mann, Mitte Vierzig, am Luzerner Bahnhof: «Du glaubst es mir wahrscheinlich nicht… Aber das ist auch egal, denn ich weiss was ich gesehen habe… Ich bin hier… Genau hier», er geht auf dem Perron einmal im Kreis um mich herum, «einem Engel begegnet.» Anmache? Nein, doch nicht. Er sieht mich dafür zu eindringlich an. «Ich weiss es, ich bin mir sicher. Es war ein Engel. Er hat mich direkt angesehen, nichts gesagt, aber er war so schön, so schön. Ich bin auf ihn zugegangen, dann einmal rund herum: Er hatte keinen Schatten, nichts. Und als ich wieder hoch geschaut habe, da war er weg, verschwunden.»
Brigitte steigt aus. Baldegg Kloster. Sie ist angekommen. Ich fahre weiter.
Ein bisschen wirken Zugabteile wie Vergrösserungsgläser: Sie verstärken Effekte, die sonst kaum auffallen würden. So scheinen Pendler auch nur zwei Extreme zu kennen: Extrem introvertiert und extrem extrovertiert. Erstere verstecken sich hinter Handy und Kopfhörer, zweitere Teilen ihre Beziehungsprobleme mit dem ganzen Zugwagon. Da kann dann auch mal ein Handy fliegen.
Es ist schon ein seltsames Zwischenspiel: Ein Zugabteil ist weder ein privater Raum noch scheint er ganz der Öffentlichkeit zu gehören. Alles was gesagt oder getan wird, unterhält den halben Zug. Trotzdem ist jedes Abteil eine Kapsel für sich.
Seit einer halben Stunde sitzt eine junge Frau weiter hinten in einem komplett besetzten Abteil. Sie weint. Bitterlich. Es ist ruhig geworden im Zug. Doch niemand kann sich ans Herz fassen. Was hätte ein Unbekannter auch tun können, um sie aufzuheitern? Gerade, als ich in meiner Tasche nach einem Taschentuch greife, steigt sie aus.
Der Schweizerische Respekt vor der Privatsphäre des Anderen – wir nennen es Höflichkeit – ist meiner Erfahrung nach beispiellos. Eingemischt wird sich nicht, auch nicht im Zug. So würde es auch nie jemandem einfallen, sich neben einen bereits sitzenden zu setzen, wenn noch irgendwo ein anderer Platz frei wäre. Tatsächlich existiert eine vordefinierte Sitzreihenfolge für Zugabteile, die nie ausgesprochen aber immer eingehalten wird: Als erstes wird der Platz in Fahrtrichtung am Fenster belegt. Dann jener schräg gegenüber. Dann der Platz in Fahrtrichtung am Gang. Und nur im aller äussersten Notfall wird der letzte Platz am Fenster, gegen Fahrtrichtung, belegt. Dazu kommt, dass so etwas wie eine natürliche Segregation der Fahrgäste geschieht: Alte Damen und Herren, junge, Jugendliche und manchmal auch Männer und Frauen sitzen in feinsäuberlich voneinander getrennten Abteilen.
Wir sind in Hitzkirch. Ein Typ setzt sich in mein Abteil. Ich habe die Schuhe ausgezogen und die Füsse auf dem Sitz vor mir. Er atmet schwer und berührt meinen linken Fuss. Ich schrecke auf, wechsle den Wagon. Und setze mich zu einem jungen Paar.
«Wir haben uns in einer Siebner-WG in Zürich kennengelernt», erzählt sie mir und lacht, «ich hab mir zuerst gar nichts gedacht. Bei dem Altersunterschied. Aber irgendwie hat’s geklappt. Und jetzt ist es so. Wir haben gerade einen Sommer auf der Alp verbracht. Das brauche ich manchmal. Um wieder Energie zu tanken für meine Bilder. Ich bin auch noch DJane. Dieses Wochenende leg ich in Luzern auf, komm doch auch.»
So persönlich und nah wie in einem Zugabteil erleben wir unsere Mitmenschen sonst nur im eigenen Wohnzimmer. Das kann manchmal unangenehm sein, führt aber viel öfters zu einem Aufeinandertreffen von Menschen, Welten und Kulturen, wie es noch viel öfters geschehen sollte. Viel zu schnell heisst es dann: Alles Aussteigen, Endstation.
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