Treffen sich einsame Menschen im Kinosaal

Frau Kaspar ist, wie immer, eine gute halbe Stunde vor Filmbeginn im Kinosaal. Ihr Mann war zu müde und überhaupt, der Enkel habe ihm jetzt ja dieses Netflix installiert, da brauche er die klebrigen Sitze und das überteuerte Popcorn nicht mehr. Frau Kaspar schliesst die Augen, schüttelt den Kopf. «Sorry, sorry, hallo, ‚tschuldigung, sorry», eine Frau schiebt sich zu ihrem Platz vor, ihr Mann, eine Reihe vor ihr, wollte «eine Abkürzung nehmen» und steht jetzt vor der Wand. «Ich hab’s ihm ja gesagt, aber er will ja nie hören», zischt die Ehefrau Frau Kaspar zu. Licht aus, Geruch an: Popcorn, Nachos, Prosecco. «’tschuldigung, sorry», mit dem Filmanfang schafft es der Ehemann auf seinen Sitzplatz. Irgendjemand furzt ungeniert, es ist ja schliesslich dunkel. Der Platz rechts neben Frau Kaspar bleibt leer. Das Drama beginnt. Wie immer, wenn Frau Kaspar alleine ins Kino geht, stellt sie sich vor, dass eine Frau neben ihr sitzt. Die ihre Hand streichelt, den Arm um sie legt und Frau Kaspar bei gefährlichen Szenen dann so tut, als ob sie ein bisschen Angst hätte. «Wer bist du?», fragt es auf der Leinwand. «Das ist die aus ihrem Traum, ich erkenn sie an der Frisur!», ruft jemand von hinten links. Niemand reagiert. In der Pause fragt der Ehemann seine Frau, ob sie ein Glacé möchte. Nein, sie hätten doch gerade erst gegessen, meint die Ehefrau. Gut, dann hole er sich jetzt ein Pralinato, entgegnet der Ehemann. «Aber Herrmann, denk doch daran, was der Arzt gesagt hat!» Zu spät. Der Ehemann drückt sich an Knien und Jacken Richtung Ausgang. Die Ehefrau nimmt ihr Handy aus der Tasche und googlet den Kalorienwert von Pralinatos. 244. Als der Ehemann zurückkommt, versucht sie ihn mit einem Blick zu strafen, aber das Pralinato ist längst gegessen, der Ehemann kaut zufrieden auf dem goldenen Stängel rum. Schweigepause. Manchmal stellt sich Frau Kaspar vor, wie die Frau neben ihr aussehen würde. Sie hätte schulterlange, graue Haare und grüne Augen. Als der Film wieder anläuft, ist sie längst ihrem Kopfkino verfallen. «Nein, geh da nicht rein!», kommentiert die Stimme hinten links völlig aufgebracht. Frau Kaspar blinzelt ihre Illusionen weg und konzentriert sich auf die Handlung vor ihr. Nichts könnte ihr gerade schwerer fallen. Als der Film zu Ende ist, bleibt Frau Kaspar noch eine Weile sitzen, während sich der Ehemann und die Ehefrau an ihr vorbei nach draussen drängen. Dann zerreisst Frau Kaspar das Ticket und geht langsam nach Hause.

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